Werkstatt Kreatives Schreiben
2023/2024 © Willi Näf Liebe Kreative, lieber Kreativer meines Workshops:
Schön, bist du da. Unten eine Art Manuskript des Workshops, grob gesäubert. Wirklich nur grob. Es hat sicher noch Unsauberkeiten darin. Aber eine Krone ist ja auch erst vollständig, wenn ihr ein, zwei Zacken fehlen. Gell. Nebst Zacken fehlt hier noch etwas: Die gängigen Kreativtechniken, die man auch in schlauen Büchern oder im Internet findet. Hier gibt's nur persönliche Erkenntnisse aus 35 Schreibjahren. Copyright auf allen Inhalten dieser Seite: © Willi Näf, 2024 Bitte gibt diesen Link nicht weiter. Er ist für dich als Workshop-Teilnehmer bestimmt und für niemanden sonst. Damit tust du deinen Respekt kund gegenüber den Arbeitsstunden, die in diesen Inhalten stecken. Sie lesen sich locker, und du weisst ja: Je lockerer sich etwas liest, desto härter wurde es erarbeitet. Kompliziert schreiben kann jeder. Links zu besprochenen Texten: Novembertext Der bockige Messias Gästin Polizeiliteratur Es sind alles Texte von mir. Zweitens aus Eitelkeit. Erstens, weil ich bei meinen eigenen Texten den Autoren besonders gut kenne und also am besten weiss, ob er sich beim Schreiben etwas überlegt hat. Und wenn ja, was. |
Das Schreiben beginnt
lange vor dem Schreiben. Fang an, bevor du musst Ohne Disziplin keine Kreativität. Wer auf den letzten Drücker schreibt, liefert unreifen Mist. Geist heisst Spiritus. Inspiriert schreiben heisst geistreich schreiben. Der Geist weht, wann er will. Kurz vor Abgabetermin weht er selten. Es braucht Zeit. Fürs überarbeiten und reifen lassen. Kommt eine Schreibaufgabe, erstell sofort das Dokument … … in dem du den Text schreiben wirst. Setz die Eckdaten rein: Worüber, für wen, wie lang, bis wann, Stilrichtung. Auch wenn der Abgabetermin erst in einem halben Jahr ist. So bleibt der Auftrag präsent. Und wenn du im Alltag Impulse, Ideen, Gedanken hast, die dazu passen könnten: Dokument auf, Notizen rein, Dokument zu. Bau eine Lagerhalle für Ideen, Themen, Inspirationen 1 Berg ausgeschnittener Zeitungsartikel. 1 Ordner auf dem Compi, «Stoffe». 1 Dokument, «Stoffe» mit jeweils wenigen Zeilen über ein mögliches Thema, oder auch nur die Adresse einer Website. Fotografier Zeitungsabschnitte. Kannst du in einem halben Jahr wieder löschen. Mach Screenshots von instagram oder Whatsapp-Dialogen. Inspiration fischen im Lebensstrom Geh wach durchs Leben. Manche sehen überall Physik. Andere Designs. Andere Hilferufe. Oder Strukturen. Oder: Geschichten. Begreif Dein Leben als Strom von Geschichten. Von Begegnungen und Erlebnissen, Lektüren und Träumen. Ein gewaltiger Amazonas. Behalt das Fischernetz draussen. Du wirst Ideen einfangen für deinen Text. Und du wirst Beifang machen, den du in der Lagerhalle (siehe oben) ablegen kannst. Finde heraus, was dich inspiriert. Wo Geistesblitze dich treffen. Beim Biken, Joggen, Duschen, Beim Coiffeur, im Auto, im Wasser, beim Dösen, Wandern … Beginne diese Situationen gezielt als Quellen zu nutzen. Wenn du also losjoggst, steuere deine Gedanken hin zum aktuellen Textprojekt. Inspiration fischen im inneren Strom. Du bist randvoll mit Sehnsüchten, Träumen, Ängsten, Idealen, Sorgen, Glücksgefühlen, Komik, Schwächen, Stärken, Beziehungen, Liebe und Wut, Trauer, Geheimnissen, Gottesvorstellungen, Jenseitsvorstellungen, Weltbilder, Vorurteilen, Motiven, Blockaden, Charaktermerkmalen, Skepsis, Vorlieben, Abneigungen … Beobachte dich. Was interessiert dich, was gefällt dir, was provoziert dich, wie reagierst du wann worauf wie warum? Was auf dich wirkt, wirkt auch auf andere. So bekommst du wirkmächtige Geschichten. Deine persönliche Gutschreibezeit Schreiberinnen arbeiten mit der Kreativität wie Wellenreiter mit den Wellen. Sie lernen, an welchen Küsten und zu welchen Tages- und Jahreszeiten die besten Wellen kommen. Rechtzeitig dort sein. Parat zum Aufsteigen. Nicht die Abgabetermine allein sollen den Takt bestimmen, sondern Leistungsfähigkeit von Körper und Geist. Tageszeit Finde deine Gutschreibezeit. Die meisten schreiben morgens am besten. Die Gedanken sind am klarsten. Der Morgen ist super für Kreatives und Finishes. Am Nachmittag eher Fleissarbeit, Recherchieren, Transkribieren, Rohschreiben. Am Abend je nach Präferenz. Für Nachteulen gibts da noch einen Flow. Nachmittag und Abend eignen sich oft zum Stichworte sammeln. Oder um ein Brainstorming rein zu hauen, das man eines morgens bei frischem Geist strukturieren, verknüpfen, ergänzen kann. Wenn du steckenbleibst: Unterbrich. Erzwingen bringt nichts. Was du noch zwei Stunden lang herbei wurstelst, wirst du am nächsten Morgen genervt löschen und innert einer Viertelstunde neu und viel besser schreiben. Nachtzeit Eine persönliche Erfahrung: Manchmal lasse ich abends beim Einschlafen meine Gedanken ganz gezielt durch meine aktuelle Schreibarbeit mäandern. Am andern Morgen lenke ich sie im Halbdusel sofort gezielt wieder ins Thema. Nicht selten bekomme ich im luziden Halbschlaf innert Sekunden oder Minuten ein Feuerwerk von Impulsen und Formulierungen. Ich halte sie sofort fest, mit einer Notiz oder einer Sprachnachricht an mich selber. Achtung: «Ich behalte es im Kopf!» reicht nicht. Nie. Schlaf Genügend. Manche schwören auf Mittagschläfchen. Ich auch. Das räumt den Kopf auf, der Nachmittag wird effizienter. Nicht mehr als 20 Minuten. Essen Voller Bauch schreibt nicht gern. Tennisspieler essen bissweise Banane. Nicht zufällig. Ich esse Zmorge nichts, Zmittag ein Müesli. Znacht richtig. Ausser es steht noch eine Abendschicht an. Sport Wird unterschätzt. Hält nämlich auch den Geist wach. Manche Autoren müssen morgens erst 45 Minuten fitten, um die nötige Spannung aufzubauen. Ich selber bewege mich, wenn der Geist leer ist, also am späten Nachmittag oder Abend. Spür du selber, was dir gut tut. Stimmung Schweres Herz studiert nicht gern. Wer schlecht drauf ist, soll nichts erzwingen. Spannungen im Büro oder daheim: Mit dem Lap anderswo arbeiten. Kleine Schreibarbeiten nicht planen vor einer schwierigen Sitzung. Schreibumgebung Die Umgebung beeinflusst Stimmung und Kreativität. Nenn dein Büro Schreibstube. Oder wenigstens Schreibecke. Ich habe meine Schreibstube im Dachstock, mit Blick über das Dorf. Das macht etwas mit mir. Ich habe den Über-Blick. Mein Geist ist weit. Im Keller schreiben könnte ich nie. Auch nicht mit dem Bildschirm an einer Wand. Du solltest vom Arbeitsplatz aus in den Raum blicken, oder aus dem Fenster. Spür in dich hinein und beobachte dich, bis du dein optimales Setting gefunden hast. Störfaktoren solltest du killen. Heizung etwas zurückschrauben, öfter lüften, bequemer Stuhl, indirektes Licht, aufgeräumt arbeiten, Ungeliebtes aus dem Blickfeld verschieben. Also keine Steuererklärung rumliegen haben. Ausser du liebst Steuererklärungen. Soll's ja geben. Und klar: Türe zu. Insta, Whatsapp, Telefon, Mailbox abstellen oder auf lautlos. Spür dich! Es schlägt sich nieder. |
Drei Sprachen gibt es!
Denksprache. Archaisch. Privatgelände. Unsichbar, unverstellt, unkultiviert, unmoralisch, unreflektiert, unsäglich, unzumutbar. Natur pur. Tipp: Für sich behalten. Sprechsprache. Relativ naturbelassen, aber etwas kultiviert. Gebündelt, zumutbar. Einfache Struktur, überschaubarer Wortschatz, je nachdem wie dir der Schnabel gewachsen ist. Manche sind nüchtern, andere geschwätzig, aber sie sind meist authentisch. Das ist die Stärke der Sprechsprache. Vor allem in Kolumnen oder bei geschriebenen Interviews, wo lesen sich anfühlt wie zuhören. Diese Schreibtipps hier sind in Sprechsprache und Sprechstruktur gehalten. Das ist zwar entsetzlich verboten, aber wahnsinnig angenehm. Schreibsprache. Hochindustriell verarbeitet, überreguliert, verzweckt. Viele gescheite Substantivierungen, Abstraktionen, Phrasen, Schwurbel, Lithurgie. Der rote Faden ist sauber und stringent, thematische Sprünge sind idealerweise selten. Die Schreibsprache ist darum weit entfernt von der archaischen Denk- und der naturwüchsigen Sprechsprache. Die Achillessehne der Schreibsprache ist der Zwecksprech: Kunstsprech, Politsprech, Wissenschaftsprech, Wissenschaftssprech, Jurasprech, Pastorensprech, Polizeisprech. Obacht: In der Schreibsprache kann man auch schwatzen. Mediensprecher lieben es. Es wirkt dann auch alles so herrlich unecht. Umgekehrt ist auch gefahren: in der Sprechsprache kann man auch schreiben. Damit macht man Geschriebenes authentischer. Und darum geht es mir hier! Ein Beispiel für Schreibsprache (Politsprech): «In der Tat ist es durchaus in Betracht zu ziehen, diese oder jene Alternative zu prüfen, wobei ich an dieser Stelle in aller Deutlichkeit betonen möchte, dass unter den derzeitigen Umständen und besonders in Anbetracht der Möglichkeit, dass auch interessante Optionen aufgrund substantieller Veränderungen des Gesamtkontextes innerhalb eines schwer absehbaren Zeitraumes ihren eigentlichen Sinn und Zweck verlieren und damit hinfällig werden könnten, meiner Ansicht nach eine pragmatische Vorgehensweise im Vordergrund stehen sollte, weshalb ich dafür plädiere, jetzt nichts zu überstürzen, sondern nach einer Analyse der gesamten Situation, selbstverständlich unter Miteinbezug aller Betroffenen, einen klaren und präzisen Entscheid zu fällen.» ©win 1998 Heisst übersetzt in Sprechsprache: «Mir lueget emol». Phrasenchecker: www.blablameter.de Schreib in der Sprechsprache! Schreib in der Sprechsprache! Schreib in der Sprechsprache! Schreib in der Sprechsprache! Damit kommst du in die Köpfe des Publikums. Sprechsprache flutscht wie ein isotonischer Drink ins Blut. Die Leserin soll dich beim Lesen hören. Wie bekommt man Sprechsprache hin? Ganz einfach: Beim Schreiben laut lesen. Immer wieder. Immer wieder. Immer wieder. Laut. Ja, laut!!! Satz für Satz. Hören, wo der Text unnatürlich tönt. Und sofort umbauen. Entschlacken kürzen umstellen bündeln killen: Kommas Fremdwörter Anglizismen Substantivierungen Passivverben Phrasen Schwurbel Füllwörter Ballast Wiederwiederwiederholungen. Verdichten. Kürzen. Tempo machen. Das geht nur mit laut lesen und sich dabei zuhören. Ein gern unterschätzter Unterschied zwischen Schreib- und Sprechsprache: Perfekt versus Präteritum. Die Schweizer Sprechsprachen sind zumeist Dialekte. Und die kennen kein «ich schrieb.» Nur ein «ich habe gschrieben». Ergo: Je öfter du anstelle des Präteritums den Perfekt einsetzt, desto stärker wirkt der Text gesprochen statt geschrieben. (Chlämmerli auf für Redner: Bei Todesstrafe verboten ist das Präteritum in einem hochdeutschen Manuskript für eine Rede, die am Mikrofon simultan in Dialekt umgesetzt werden soll. Nur blendende Redner schaffen, es am Mikrofon ein geschriebenes «Ich sass wegen Mordes» direkt umzuwandeln in ein gesprochenes «I bi wäge Mord gsässe». Und wie verhindert der Redenschreiber auch gleich, dass ihm einzelne Fälle von Vergangenheit durch die Lappen gehen? Na? Richtig. Laut Lesen. Chlämmerli zu.) Hier eine Satire zum Begriff Gästin, die ich fast nur im Präsens und im Perfekt halte – die Vergangenheitsform kann man fast an einer Hand abzählen. Um das hinzubekommen, habe ich den Text beim Schreiben mehrfach laut gelesen. Was du hier und jetzt grad liest, ist übrigens ja auch nur theoretisch das Manuskript eines Workshops. Tatsächlich ist es ein Brief an dich. Mit Inhalten aus dem Workshop, klar, aber trotzdem so leicht und geschwätzig wie ein Podcast. Sprechsprache halt. Du liest mich nicht, sondern hörst mir zu. Kreatives Beispiel 1: November-Text Lies und spür den Text, frag dich wie er auf dich wirkt und wieso. Hier in Farbe einige kommentierte Ausschnitte. Lead: «Der November kommt. Der Hiob unter den Monaten.» Hiob dient hier als Verkörperung von Leid, Trauer, Sinnlosigkeit. Verkörperungen suchen! In einem anderen Text schrieb ich mal: «Zihlschlacht und Schwaderloch sind die Fenchel unter den Ortsnamen.» Weiter im Lead: «Humor gibt’s nicht auf Knopfdruck. Ich weiss das. Als Kabarettist wurde ich mal von der Bühne gebuht.» Wo es möglich ist, benutz deine heftigste Erfahrung als Einstieg in ein Thema. Lass das Publikum teilhaben. Text: Hier fünf Sätze, kurz getaktet. «Such die Nähe derer, bei denen du dich wohl fühlst, und halt dich fern von emotionalen Energievampiren. Geh früher schlafen. Du bist dann besser gelaunt und widerstandskräftiger. Koch mal ein neues Rezept. Kauf mal eine Teesorte, die du noch nie probiert hast.» Beim laut lesen bekommst du ein Gefühl für Rhythmus und Takt. Fünf kurze Sätze sind genug, sonst wirds einschläfernd. Darum beschleunige ich nun den Text und wirble in einen ganz neuen Rythmus: «Hör dir keine Requiems und kein Black Metal an, ersetz Dramen durch Komödien, lies «Glück kommt selten allein» von Eckart von Hirschhausen, oder Andreas Malessa, Hanns Dieter Hüsch, Substanzielles auf humorvoll halt, oder Bill Bryson, notfalls gräbst du noch einen alten Ephraim Kishon aus.» Weiter im Text: Das beste Bibelkapitel für den November ist das Kapitel «Auch dieser Monat geht vorüber imfall.», also Prediger 3, 1-12. Die Leser werden zur Bibel greifen. Provozieren, locken, frech sein. Kreatives Beispiel 2: Der bockige Messias Titel: «Der bockige Messias». Kracht mehr als «Jesus, der Rebell». Also überlegen: Wie kann man «Rebell» zuspitzen und konkretisieren? Zum Beispiel mit dem Adjektiv «bockig». Also: Zuspitzen! Ungewöhnliche Begriffe kombinieren, sie aufeinanderkrachen lassen, Spannung erzeugen und dann im Text auflösen. Lead: Du schreibst folgendes: «Maler stellen Jesus optisch oft als liebevoll, sanft und gütig dar». Dann liest du laut. Und hörst dich gähnen. Und überarbeitest den Satz. Verstärkst es. Suchst womöglich gar eine Verkörperung. Ergebnis: «Auf vielen Gemälden blickt Jesus von Nazareth drein wie eine Mutter Theresa mit einer Überdosis Kamillentee.» Auch Doppelbödigkeit ist erlaubt, wenn sie offensichtlich erkennbar und mit Humor kombiniert ist. Sowas baut Spannung auf: Die Leute wollen wissen, wie der Schreiber diese Spannung auflösen wird. Natürlich muss er dann auch liefern. Noch was: Die Kombination von Begriffen aus komplett unterschiedlichen Welten respektive Sprachwelten («Überdosis» und «Kamillentee») kann man systematisch betreiben. Ich überlege beim Schreiben oft, ob ich einen Begriff mit einem Begriff aus einer total anderen Welt ersetzen kann. Einem Polizeisprecher Pastorensprech oder einem Kunstkritiker Jurasprech in den Mund zu legen kann sehr viel Spass machen. Weiter im Lead: «Der Künstler-Jesus ist ein lammfrommer Mitmensch. Wieso schreibe ich hier «Mitmensch» statt «Mensch»? Antwort: Weil der Begriff einen sozialdemokratischen Duft abgibt und das Bild vom Künstler-Jesus verstärkt. Allgemein gilt: Wo immer es die Stilform und das Medium respektive Zielpublikum es zulässt, pack Humor rein. Oder gar Selbstironie. Denk auch dran: Etwas vom letzten, was die Künstliche Intelligenz beherrschen wird, sind Humor, Doppelbödigkeit, Ironie. KI liefert nur Generika, glattgerührte Vanille. KI wird nie Begriffe aus unterschiedlichen Sprachwelten aufeinander prallen lassen, nie «Mutter Theresa» mit «Überdosis» kombinieren, Unsere Texte müssen sich von KI unterscheiden. Darum gilt heute öfter als früher: Nicht nur der Inhalt eines Textes darf präsent sein, sondern auch sein Stil. Ein Text darf beim Lesen auch auf sich selber aufmerksam machen, also auch auf seinen Autoren. Damit belegt er seine menschliche Herkunft. Handmade! Unique! Weiter im Lead: «Der Autoren-Jesus hingegen ist wild; ein Vagabund und Querulant von zweifelhafter Herkunft, der seine eigene Hinrichtung provoziert.» Hier stelle ich dem Malerjesus den Schreiberjesus gegenüber, und darauf will der Text hinaus: Auf den Blickwinkel der Autoren. Zentral für das Interesse an jedem Thema: Ein neuer Blickwinkel. Also: Suchen! Solche Passagen entstehen übrigens oft, wenn man verdichten muss. Kürzen schafft Tempo. Text: «Begleitet von seiner Entourage vagabundiert der Prediger und Heiler durch die Gegend und übt Verzicht; Verzicht auf den Schweiss seines Angesichts.» Jünger? Klingt lahm und fad. «Entourage» ist spannungsreicher. «Herumziehen»? Gähn. «Vagabundieren» weckt die Leute mehr. Natürlich muss es inhaltlich passen. Ich bin nun ziemlich sicher, dass manche braven Leute in Galiläa diesen Prediger moralisch verurteilten - ein Nichtsnutz, ein Vagabund eben. Wir beschreiben diesen Typen aus heutiger Perspektive, im Wissen um seine historische Bedeutung. Aber warum nicht mal den Blickwinkel der hässigen Nachbarin von Nazareth wählen. Tipp bei der Suche nach neuen Blickwinkeln: In Synonym-Wörterbüchern findet man negativ oder positiv aufgeladene Synonyme. Eine treffliche Auswahl zur Verstärkung des gewünschten Blickwinkels. Also: Synonyme suchen! woxikon.de, dwds.de, https://wortschatz.uni-leipzig.de/de Text: Du schreibst: «Jesus brach mit den gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit». Dann gähnst du wieder. Gähnen ist ein wichtiger Teil des Schreibens. Und «Konventionen» ist geschwurbelter Mist. Also machst du sie konkret, überhöhst sie vielleicht sogar: «Der Lebenswandel des Wanderpredigers ist ein Affront gegenüber allen reinen Mitbürgern, die ihr täglich Brot auf redliche Weise verdienen, die teilzeit arbeiten, fairtraide einkaufen, ihre langen Haare zum «man bun» knoten und bei Frauen ausschliesslich auf die inneren Werte achten.» Also: Konkret machen. Bilder abrufen. Zeit- oder Kultursprünge wagen. Den Lesenden etwas zutrauen: Die kommen durchaus selber auf die Idee, dass Migros und Coop zu Jesu Zeiten noch nicht auf fairtrade setzten … Gell. Weiter im Text, zweitletzter Abschnitt: «Noch bemerkenswerter ist, dass der soziale Sprengstoff dieser vier Evangelien bis heute weltweit Detonationen verursacht. Ausbrüche von gewöhnlichem Hass und ungewöhnlicher Liebe.» Lebhaft schreiben. Chlöpfe loo. «Unabhängig von seiner Historizität krempelt der erfolgreichste Verlierer der Geschichte seit 2000 Jahren die Menschheit um. Tot ist anders.» «Tot ist anders» ist «Jesus lebt» auf spannend. Auf sowas kommt man, indem man genau liest, in sich hinein fühlt und spürt, funkt da was oder funkt nix. Genau lesen und sich dabei spüren. Noch was: «Historizität» benutze ich erstens der Kürze wegen, aber zweitens auch, weil ich in einem sehr sprechsprachigen Text da und dort gezielt mit einem wissenschaftlichen Begriff markieren will, dass ich durchaus mehr kann als nur volkstümlich, dass ich womöglich sogar mal ein schlaues Buch zum Thema gelesen habe. Weitere Beispiele Der Lead zu einer Weihnachtsgeschichte über die Herberge: «Die Bibel ist voller Geschichten, die nicht drinstehen, meint Autor XY, und schreibt diese deshalb gerne selber.» Mit Widersprüchen spielen. «Ich habe mich kawumm in eine Frau verliebt.» Sei lautmalerisch. Seit laut und malerisch. In der ersten Fassung schreibst du «Hals über Kopf». Und dann fragst du dich: Spürt man «Hals über Kopf»? Hört man da ein Knistern? «Äpfel mit Schnittlauch vergleichen.» «Ausnahmen regeln die Bestätigung.» Aus Bekanntem Neues schaffen, überraschen. Lead: «Als der Schweizer Koch Anton Mosimann 2004 von Queen Elizabeth II. zum Officer of the British Empire geschlagen wird, hält er es für seinen Karrierehöhepunkt. Neun Jahre später kocht er das Dinner für die «Hochzeit des Jahrhunderts» von Prinz William und Kate Middleton. 2017 erscheint seine Autobiografie. Sie wiegt drei Kilogramm und zählt vierhundert Seiten. Kürzer habe ich sie nicht hinbekommen.» Wenn es möglich ist und Sinn macht: Dich selber in einer Geschichte verorten und zum Beteiligten machen. Mit der Perspektive überraschen. Weitere Tipps Lieber Fragen aufwerfen als Fragen beantworten. Das aktiviert das Publikum mehr. Erkenntnisse nicht mitteilen, sondern auslösen. Was die Leute selber merken, bleibt länger haften. Dein bestes Spielzeug sind das Wissen, die Erwartungen, Vorstellungen und Klischees in den Köpfen des Publikums. Setz beim Publikum ein gewisses Vorwissen voraus und fordere es ein wenig. Wage Subtext, schreib also auch mal zwischen den Zeilen. Wer es nicht merkt, verpasst nichts, und wer es merkt, ist stolz, dass du ihm zugetraut hast dass er es entdeckt. So verbündet sich dein Leser oder deine Zuhörerin mit dir. Mein erster Print-Chefredaktor sagte mir beim Einstellungsgespräch: «Wenn du erst mal alles vergessen hast, was dir dein Deutschlehrer beigebracht hat, dann wird aus dir ein guter Jahrgang.» Ich würde es heute so formulieren: Beherrsch die Regeln, aber lass dich von den Regeln nicht beherrschen. Zämegfasst: Timing Tempo Tüpflischisser Noch eine Anmerkung: Wenn du aus Zeitdruck zuviele Stunden oder Tage am Stück schreibst und überarbeitest, wirst du textblind. Dann siehst du Subtext oder Pointen oder Assoziationen nicht mehr, und redigierst sie später aus Versehen raus. Darum: Sicherheitsabstand zwischen Überarbeitungen. Text immer wieder mit frischen Augen lesen. Will heissen: früh genug anfangen! Womit wir, zirkelschlüssig, wieder beim Einstieg in diesen Sermon angekommen wären. |
Wir fassen zusammen:
- Sich beobachten. - Wach lesen, wach leben. - Beim Schreiben: Früh anfangen. - 10 mal überarbeiten und kürzen. Nein, 100 mal. - Laut lesen. Laut!!! Alles! - Sprechsprache statt Schreibsprache. - Texte reifen lassen. Nächtelang. - Sicherheitsabstand zwischen Überarbeitungsphasen einlegen. - Finish des Textes am Morgen! Mach dir keine Illusionen: Je leichter sich etwas liest oder anhört, desto härter wurde es erarbeitet. Schreiben kostet Zeit und Energie. Aber ein gutes Ergebnis macht Freude. Allen. Letzte Impulse
(nicht von mir, sondern aus dem Internet): Fuck Anglizismen! Denk dir keine Sätze, die das Prädikat zerteilen, aus. Meide das Klischee wie der Teufel das Weihwasser, es ist ein alter Hut. Vergleiche sind schlimmer als Klischees. Wenn du's trotzdem wagen willst, dann vergleich nur nie Äpfel mit Birnen. Sondern Äpfel mit Schnittlauch. Die abgenutzte Phrase ist nämlich die Cousine des Klischees. Am Schlimmsten sind Superlative. Sei mehr oder weniger spezifisch. Kein Mensch mag allgemeine Behauptungen. Sei nicht redundant, benutze nicht mehr Wörter als nötig, das ist total absolut überflüssig. Als PS eine Anmerkung von mir: All diese Regeln darf man auch brechen. Aber nur, wenn man sie gut bricht. |