«Sternenkind Jonathan» aus dem Magazin REPORTAGEN #76, 2024. Hier die gelayoutete und gedruckte Reportage, weiter unten der etwas längere Director's Cut, der auch auf dem Handy angenehm lesbar ist. ©Willi Näf 2024.
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Handykompatibler Director's Cut von «Sternenkind Jonathan» aus dem Magazin REPORTAGEN #76, 2024. ©Willi Näf 2024.
Jonathans Besuch «Und Sie sind sich wirklich sicher», fragt der Chefarzt der Geburtshilfe nach dem ersten Ultraschall, «dass Sie diese Schwangerschaft nicht beenden wollen?» 12. Februar. Halb neun Uhr morgens. Micha befreit die Fahrräder vom Eis. Bei Anna-Julias Vehikel streikt die Gangschaltung. Micha schiebt sie durch den frischen Schnee zum Helena-Spital. Dr. Alder, Chefarzt Geburtshilfe und Pränatalmedizin, erwartet das junge Paar zum ersten Ultraschall. In Anna-Julia bewegt sich ein kleines Kind. Ein sehr kleines. 21. Woche? Sind Sie sicher punkto Zeugungsdatum? Ja, doch. Jenes Wochenende im Wallis, bei Roger und Brigitte, dem Freundespaar vom Gleitschirmfliegen, die Couch, zwei Tage später riecht Anna-Julia sich selber anders, und beim Spazieren, erinnert sich Micha, hast du doch den Eisprung gespürt, rechts. Es ist die 21. Woche, soviel steht fest. Das Kind, sagt der Arzt, während es unter dem Ultraschall Fäustchen ballt, es hat Zysten im Gehirn. Zysten können wieder verschwinden. Sie können aber auch Softmarker für Schwerwiegendes sein. Sie können Gehirnflüssigkeit stauen. Den Kopf grösser werden lassen. Den Geburtsvorgang verkomplizieren. Anna-Julia und Micha haben bereits den Ultraschall der 12. Schwangerschaftswoche ausgelassen, und sie bleiben dabei: Möglichst wenig Pränataldiagnostik. Softmarker hin oder her, die Schwangerschaft abbrechen steht nicht zur Debatte. Nicht aus weltanschaulichen Gründen, sondern weil's nicht stimmig ist. Der Arzt gibt seinen Segen, auf den nächsten Check zu verzichten – wer nicht abtreiben will, braucht auch nicht alle paar Wochen Gründe dafür zu suchen. Dürfen wir gehen im Vertrauen, dass die Zysten wieder verschwinden? Ist das eine Okay-Einstellung, oder ist sie naiv? Das kann und darf man so machen, antwortet Dr. Alder. Wieviel soll ein Arzt jenen Eltern offenbaren, die nicht einmal das Geschlecht des Kindes wissen wollen? Er hat es toll gemacht, werden sie später sagen. Er hat respektiert, dass sie ihr Grundvertrauen nicht alle paar Wochen vom Ultraschall bestätigt bekommen möchten. Es kommt wie es muss. Manchmal matchen Ei und Sperma nicht. Dann verabschieden Kinder sich von selber. Man wünscht es sich nicht, wäre aber vorbereitet. Und war da nicht jenes Paar, grosse Nackenfalte, grosse Sorgenfalten, viele Tränen, fast hätten sie abgetrieben, und dann kommt das Kind putzmunter auf die Welt? Eben. Der Arzt kann dir nie genau sagen, es ist so oder so. Und es hat ja auch jahrtausendelang ohne all die Diagnosemöglichkeiten funktioniert. Anna-Julia und Micha verlassen ihren Gynäkologen in der Hoffnung, dass er in acht Wochen beim zweiten Ultraschall Entwarnung geben kann. Damit sie ein gesundes Kind bekommen. Und damit sie nicht im Spital Eltern werden, sondern im Geburtshaus bei den Hebammen mit 500 Jahren Erfahrung, die so schnell nichts aus der Ruhe bringt. Frauen haben schon immer geboren, sagt Anna-Julia, sie will die Hormone spüren, die Bereitschaftssignale von Kind und Mutter, alles wunderbar eingerichtet. Dass die Natur auch eine garstige Mütter- und Kindersterblichkeit vorgesehen hat, jaja schon klar, aber auch die Hebammen sehen ja genau hin. Die suchen nicht nach Schwierigkeiten, sondern nach Wegen, und wenn du Angst hast, bist du nicht entspannt, also. 8. März. Besuch im Geburtshaus. Der Optimismus ist leicht getrübt, aber hey, Zysten sind bloss ein Softmarker. Die zwei ahnen nicht, dass der Arzt noch weitere Softmarker entdeckt hat. Dass er unverzüglich ins Geburtshaus angerufen hat, um sich zu vergewissern, dass auch die Hebammen es für vertretbar halten, den Wunsch des Paares nach möglichst wenig Informationen zu respektieren. Ob den beiden klar sei, worauf sie sich einliessen, hat der Arzt sie gefragt, und ob sie es hinbekommen würden, selbst wenn das Kind sterben sollte. Ja Marc, hat die Hebamme geantwortet, wenn es so ist, stehen wir das gemeinsam mit ihnen durch. Mittagessen zuhause. Salbeiteigwaren mit viel Olivenöl. Die beiden essen vegetarisch, Anna-Julia zudem unfreiwillig glutenfrei. Hummus und Gemüse, Fahrräder und Gleitschirme, Ideale und Pragmatismus. Er ist 29 und angehender Seklehrer, sie ist 31 und Primarlehrerin. Die beiden leben in einem Stadthaus, mit Loic, Sonja und Mia in einer Wohngemeinschaft. Weisst du, wir haben uns bewusst für Naivität entschieden. Zysten können auch verschwinden Herztöne, Bauchumfang, Blutdruck, Urin, alles gut, acht Wochen lang. Nachts bei Freunden. Sie sind wach, alle drei. Anna-Julia nimmt Michas Hand und legt sie sich auf den Bauch. Der erste Kick in Vaters Hand. Hallo, hier bin ich. Ja, man könnte mehr Angst haben, sagt Anna-Julia. Zysten können auch verschwinden. Fünf Lieblingsnachrichten kristallisieren sich heraus, die die Eltern ihrem Kind in den nächsten Monaten immer wieder schicken: Wir haben dich gern. Wir freuen uns auf dich. Du bist genau richtig, so wie du bist. Du darfst dir von uns alle Energie nehmen, die du brauchst. Es ist so schön, dass es dich gibt. Positive Geburtsaffirmationen. Hypnobirthing. Trancen. Visualisierungen. Meditation. Macht frau heutzutage. Nenn’s meinetwegen Selbstbeschwatzung, bei mir funktioniert’s, im übrigen haben die Schwangeren das Atmen schon geübt, als es noch ohne marktgerechte Anglizismen ging, ich will doch nur eine schöne Geburt haben. Alle sagen, es wird ein Mädchen. Sein Name soll kurz sein, lange Namen werden auf dem Pausenplatz verhunzt. Zysten können auch verschwinden. Woche 29. Anna-Julia und Micha radeln zum Spital. Ihre Anspannung ist greifbar. Dr. Alder beginnt mit dem zweiten Ultraschall. Gehirn, Gesicht, Hände, Herz. Anna-Julia reist hinunter zum Kind und redet ihm gut zu: Es ist bald vorbei. Doch der Ultraschall dauert lange. Ich muss jetzt offen mit Ihnen reden. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um Ihr Kind. Die Zysten sind noch da. Das Kind macht Fäustchen. Sein Gesicht ist klein. Es hat ein Loch in der Herzscheidewand. Ein schwerwiegender Chromosomendefekt. Sehr wahrscheinlich. Im Spitalpark blühen Blumen. Sitzbank, Tränen, Trotz, Anna-Julia fühlt doch, das Kind ist zufrieden! Die beiden halten sich fest, Micha lässt das Gehörte sacken, kämpft an gegen Apathie. Er muss bei Verstand bleiben, wenn ihrer aussetzt. Und bei Trost. Den Hebammen im Geburtshaus reicht ein Blick und sie kennen die Diagnose. Anna-Julias Pandemiemaske ist getränkt, die Tränen sammeln sich unter ihrem Kinn. Trost mit Tee und Apfelschnitzen. Bleibt mit eurem Kind in Verbindung, sagt Liz. Sein Defekt kümmert es nicht, ihm geht’s gut. Ein Satz wie eine Boje. Für eine Geburt kommt jetzt wohl nur noch das Unispital in Frage. Also das, was Anna-Julia vermeiden wollte. Der Verdacht könnte sich immer noch als falsch erweisen. Klarheit brächte eine Fruchtwasserpunktion. Das zweite, das Anna-Julia vermeiden wollte; dass sie eine Nadel in dich hinein stopfen. Zu deinem Kind. Sie braucht Bedenkzeit. Das Paar radelt zum Münster. Micha setzt sich an die Sonne, Anna-Julia legt sich auf den Boden, die Gebärmutter übt Kontraktionen. Ihr Vater Peti gesellt sich dazu, ihre Schwester Tabea mit der einjährigen, wohltuend schmerzhaft unbeschwerten Tara. Irgendwann sitzen sechs sich nahe Menschen auf dem Boden beim Münster. Trauer, Tränen, Hoffnung. Micha rennt zum nächsten Lebensmittelladen, braucht die Bewegung, bringt Brot und Oliven. Bekannte gehen vorbei, sagen hallo. Ihr habt ja keine Ahnung. Anna-Julia und Micha lernen ein neues Gefühl kennen: Sie wollen allein sein, aber nicht allein gelassen werden. Am gleichen Abend Geburtsvorbereitungskurs, wie absurd, aber an etwas musst du dich festhalten, Babytalk-Trance, Wellenübung, banale Sorgen anderer Paare, und stell dir vor, freut sich jemand, wie entzückend es ist, wenn dein Frischgeborenes dich zum ersten Mal anguckt. Anna-Julia weint, Micha hält den Kopf über Wasser. Sie werden nicht mehr hingehen. Freitagmorgen im Bett. Party im Bauch. Wir beide haben unser Kind so gerne, sind so froh, dass es da ist. Am Abend kommen Michas Freunde vom Buchzirkel. Die meisten wissen noch nicht mal, dass Anna-Julia schwanger ist. Sie kochen über einem Feuer im Garten einen Topf Suppe und sinnieren über Böse Geister, Dostojewskis Roman über eine Welt des Taumels, dem keiner zu entfliehen vermag. Micha staunt, wie gut er sich konzentrieren kann. 13. April. Hebamme Anet kommt zum Hausbesuch. Es könnte Trisomie 18 sein, sagt sie. Auch sie plädiert für eine Fruchtwasserpunktion: Erst wenn wir Gewissheit haben, können wir die Geburt richtig vorbereiten, und es wird wohl das Unispital sein, das verfügt über eine Neonatologie und Erfahrung mit Palliativgeburten, das Letzte, was ihr drei braucht, ist unsicheres Personal am Bett. Trisomie 18 also, wahrscheinlich. Nein, Anna-Julia und Micha googeln nicht. Das Internet ist nicht dein Freund. Und Dr. Alder hat doch selber gesagt er kann sich irren! Micha macht sich keine Illusionen: Im Unispital wird er Anna-Julias Sturzbäche bändigen, für das Umfeld Ansprechpartner sein, Augenhöhe wahren müssen. Sie trägt das Kind, er trägt sie, weil sie das möchte. Klischee im Autopilot. Kopf und Herz lüftet er auf dem Rennvelo. Der Rest des Lebens Draussen vor dem Helena-Spital. Anna-Julia rechtfertigt gegenüber ihrem Kind, warum die Fruchtwasserpunktion nötig ist. Eine letzte Trance noch. Hey, mir geht es gut, sagt das Kind im Bauch zur Mama, hol dir Energie von mir, du brauchst sie jetzt dringender. Der übermüdete Micha schläft während der Trance ein. Dr. Alder steht mit der Einverständniserklärung zur Fruchtwasserpunktion bereit, fasst zusammen. In Anna-Julia sträubt sich alles. Ich unterschreibe nur wegen euch! Wenn was schief geht, seid ihr schuld! Micha kämpft. Mit Anna-Julia für ihren Weg. Mit den Ärzten gegen ihre Panik. Mit sich selber gegen seinen Unmut über ihr destruktives Verhalten. Wir investieren seit acht Jahren so viel Zeit in die richtigen Worte füreinander, weisst du, und jetzt dreht sie durch und die gemeinsame Verarbeitungsmöglichkeit setzt aus. Erklärungs- oder Vermittlungsversuche werden zum Eiertanz und das letzte, was besänftigt, sind Besänftigungen. Das Untersuchungszimmer ist voller Menschen. Eine Praxisassistentin spricht viel zu laut. Der Arzt mit dem Ultraschallgerät – Anna-Julias hat ihn noch nie gesehen. Sein Handy klingelt. Anna-Julia bricht in Tränen aus, das Handy muss weg! Nein, ich habe Pikettdienst, erwidert der Arzt. Gib mir das Handy, sagt Hebamme Anet zum Arzt. Sie nimmt den Anruf entgegen, marschiert hinaus, kommt ohne Handy zurück. Es ist in Ordnung, entlastet sie Anna-Julia, es sind auch deine Hormone. Das hilft auch Micha. Es fällt leichter, sich über die Hormone zu ärgern als über Anna-Julia. Nach diesem Eklat besinnen sich alle auf ihre Aufgabe. Anna-Julia stöpselt sich die Ohren zu. Reise zum Erfahrungsraum deines Babys, heisst die Trance. Sie reist hinunter zum Kind und bleibt bei ihm, während Dr. Alder eine Nadel tief in Anna-Julias Bauch steckt. Dass Micha ihre Eskalationen erträgt und seine Loyalitätskonflikte meistert – Anna-Julia ist so dankbar. Kann er sich auf die Geburt freuen, wenn er ständig auf sie aufpassen muss? Sie hat ein schlechtes Gewissen. Anderntags die Bestätigung: Es ist Trisomie 18. Langsames Wachstum, beschränkt funktionsfähige Organe. 95 von 100 Kindern sterben im Mutterleib, 95 von 100 der Überlebenden im ersten Lebensjahr. Die werdende Mutter erlebt beglückende Stunden mit ihrem lebhaften Kind und dreht dazwischen im roten Bereich. Jetzt tickt die Uhr. Ohne Countdown. Sie wird unangekündigt stehen bleiben, wenn es totenstill wird im Bauch. Jeder Schluckauf wird jetzt wichtig, jeder unbeschwerte Augenblick. Der Rest des Lebens hat begonnen, und nun nehmen sie alles, was sie noch kriegen können. Mitbewohnerin Sonja bekommt Besuch. Nancy mit ihrem einjährigen Knirps. Micha kann eine Begegnung nicht vermeiden. Die junge Mutter fragt interessiert nach der Schwangerschaft. Micha antwortet ausweichend. Nancy spürt es nicht und bleibt fröhlich, Nachwuchs, toll, Hauptsache gesund. Sonja sitzt daneben und beisst in die Tischkante. Anna-Julia und Micha besprechen Kommunikationspolitik und Wortwahl und setzen ein E-Mail auf. Liebe Freund*innen, Verwandte, Bekannte. Unser Kind hat Trisomie 18. Wir lieben es so, wie es ist. Es ist ihm wohl in Anna-Julias Bauch. Seit Beginn der Schwangerschaft ist klar, wir wollen diesem kleinen Menschlein ein Leben ermöglichen. Wir fühlen uns eng betreut und sehr gut getragen von unseren Hebammen und dem Gynäkologen. Trotz der Palliativsituation soll die Trauer nicht dominieren. Wir dürfen und wollen uns freuen über das Schöne in allem. Wir sind eine Familie. Michas zuversichtlicher Tonfall tut Anna-Julia zutiefst gut. Sie weint. Selber versucht sie Telefonate, aber die Nachricht trifft die Leute mit voller Wucht, und dann ist sie es, die sie auffangen muss, sie mit ihrem todgeweihten Kind im Bauch. Das E-Mail fordert und überfordert. Nancy versinkt in Grund und Boden. Wie grossartig, dass Ihr den Weg mit einem schwerstbehinderten Kind weitergehen wollt, schreibt jemand, definiert das Kind, verletzt seine Eltern. Sie lieben nicht trotz, sondern weil. Weil es ihr Kind ist. Fast alle Echos sind feinfühlend und teilnehmend, die Zuversicht und Klarheit des Briefes erreichen das Ziel, alle sind informiert, der Brief verhindert die entzückten Blicke bei Zufallsbegegnungen auf der Strasse, nein wie süss ja wann kommt es dann? Anna-Julia will nicht jedesmal in Tränen ausbrechen, ja wir freuen uns, es hat Trisomie 18 und wird sterben. Seinem Kind den Tod wünschen Wohlmeinende Menschen tragen Anna-Julia und Micha Internet-Geschichten zu. In England wurde ein Mädchen sogar 13 Jahre alt! Das ist hart nicht das, was Micha hören will, der gerade dabei ist, sich mit dem Tod seines Kindes abzufinden. Nein, sie werden nicht alle medizinischen Möglichkeiten ausschöpfen. Aber was, wenn das Kind einfach lebt? Darf ich meinem Kind den Tod wünschen? Micha trägt schwer an seinen Ängsten, bis er sie Anna-Julia zumutet. Jetzt übernimmt sie, gibt ihm Sicherheit. Ja, es ist okay, sich zu wünschen, dass unser Kind stirbt. Es hat seinen Weg. Unser Kind lebt im Jetzt, hat den Schluckauf und denkt nicht darüber nach, wie alt man werden muss und was ein Leben zu beinhalten hat. Es soll das Leben haben, zu dem es in der Lage ist. Anna-Julia ist glücklich über ihr Kind und wütend über seinen absehbaren Tod. Die Geburt wird ihr gemeinsames Erlebnis sein. Sie will schön gebären. Im Geburtshaus. Für die Hebammen ist es nicht ohne, hier die Verantwortung zu übernehmen. Doch Team Anna-Julia/Micha lässt nicht locker. Es weiss, was es will. Hebamme Anet ruft Lara an, die Leiterin des Palliativteams im Kinderspital. Ja doch, sagt Lara, natürlich kommen wir zu euch. Ihr schafft das, klar, ihr könnt auch ein Kind mit Trisomie 18 auf die Welt bringen. Das Kind braucht, was jedes Frischgeborene braucht. Die Nähe der Eltern. Bis es stirbt. Schliesslich will das Geburtshaus es wagen. Unter drei Voraussetzungen. Erst ab der 37. Woche, nur wenn das Kind bei der Geburt noch lebt und nur wenn es sich bis dahin dreht. Bei einer Beckenendlage, vulgo Steisslage, kommt nur das Unispital in Frage. Dreisamkeit im Schlafzimmer. Weinen, lachen, plaudern mit dem Kind. Micha bläst Anna-Julias Bauch auf. Sie atmet, als ob er wachsen würde. Und dann diese Faszination, dass man trotz aller Ungewissheiten auch zutiefst glücklich sein, trotz eines solchen Bauches miteinander schlafen kann. Manchmal möchte Anna-Julia das Kind in Michas Bauch legen. Damit es dessen Ruhe und Zuversicht tanken kann. An den Abenden plaudert Micha mit dem Kind, massiert Anna-Julia, hält ihre Seele fest – es wird zum Ritual. Das Paar sammelt Schatzkästchen-Momente. Mit Falafel auf Decken am Rhein. Megaschöne Himmelsstimmung, grau und blau, dunkel und hell. Die beiden lassen ihre Ängste fliessen, der Rhein trägt sie davon. Bald werden sie zurück sein. Anna-Julia und Micha ziehen Lose für den Familiennamen des Kindes. Er gewinnt. Sie entscheiden sich trotzdem für ihren Namen. Micha ruft ihre favorisierten Vornamen laut über den Rhein. Lange Namen sind kein Problem mehr, keine Schulfreunde werden sie je verhunzen. Es wird ein Mädchen. Sagen alle. Eltern, Geschwister, enge Freundinnen und Freunde, die WG-Bubble. Hier im Wohnzimmer ist alles erzählt, das Schwere draussen, man kann über Banales quatschen. Gleitschirm fliegen im Berner Oberland. Anna-Julia fliegt diesmal nur als Michas Passagierin. Der Start klappt prima, der Bauch ist nicht im Weg. Schwerelose Augenblicke. Das Kind kickt am liebsten dann, wenn der Schirm an Höhe gewinnt. Hey, ich stelle das Vario ab, sagt Micha, und steuere den Schirm aufgrund der Kicks, wetten dieses Kind wird eines Tages richtig gern schaukeln! Ach so, nein, wird es nicht. Anna-Julia will nicht gebären. Sie will nicht das Sterben einleiten. Schlaflose Nächte, offene Fragen. Wird es sich noch drehen? Kommt es spontan oder eingeleitet, stirbt es vor, während oder nach der Geburt? Wie bringt man ein totes Kind zur Welt? Kommt mit der Hebamme auch gleich ein Bestatter? Tausend Fragen, die erschöpfen. Der Tod könnte Klarheit und Erleichterung bringen. Besorgst du einen Wickeltisch, den du nie brauchst, aber jedesmal heulst, wenn du ihn siehst? Aber was, wenn du es bleiben lässt und das Kind lebt? Was sagst du ihm dann? Sorry, wir haben keinen Wickeltisch, wir dachten du bist eh tot? Anna-Julia achtet darauf, nicht in ein Hoffnungs-Szenario abzurutschen. Man muss auf alles gefasst sein, auf alles vorbereitet, auch auf eine Geburt im Unispital, auch auf eine Periduralanästhesie, so eine PDA braucht’s nämlich bei einer Beckenendlage, sagt das Unispital. Warum, fragt Anna-Julia. Weil das Kind steckenbleiben und sterben kann, sagt das Unispital. Unser Kind stirbt eh, weint Anna-Julia. Mehr als einmal fliegt der Ärzteschaft ihre Ohnmacht um die Ohren. Das sagen Sie doch nur, damit ich nicht wieder auf die Barrikaden gehe! Also gut, dann planen Sie doch Ihren Kaiserschnitt! Micha ist genervt. Ein Kaiserschnitt war nie Thema, aber sie ist überzeugt, die Ärzte wollten ihr hinterrücks den Bauch aufschlitzen. Ich kann nicht sachlich, ruft Anna-Julia, und ich will auch gar nicht sachlich können! Michas Strecken auf dem Rennvelo werden länger. Woche 37. Micha und Anna-Julia erstellen einen Geburts- und Palliativplan für Ärzte und Hebammen. Danke, dass Sie sich mit unseren Wünschen und Vorstellungen vertraut machen. Keine Wehenableitung, keine Herztöne abhören, die Nabelschnur bleibt nach der Geburt am Kind, bis sie auspulsiert ist, passives Plazenta-Management. Anna-Julia will, dass die Kommunikation über Micha läuft. Er soll entscheiden, was bis zu ihr gelangt. Lara vom Palliativteam organisiert ein ethisches Konzil mit Team Anna-Julia/Micha und einem Dutzend Fachleuten aus zwei Spitälern und mehreren Abteilungen. Lebensverlängernde Massnahmen: Keine. Keine Magensonden, keine künstliche Beatmung, keine Operationen. Und keine Personen am Bett, die den Weg der Familie nicht voll unterstützen. Bitte Kind, dreh dich. Deadline Woche 38. Familienaus-Flug im Engelbergertal. Über einem Grat taucht ein riesiger Vogel auf, fliegt unter ihnen vorbei, sie blicken auf seine eindrücklichen Schwingen hinunter. Es ist ein Bartgeier. Ihm folgen noch weitere. Micha, Anna-Julia und ihr Kind gleiten hoch oben über die Mitte der Schweiz, eskortiert von vielleicht zwanzig Bartgeiern. Woche 39. Messages, Karten, Päckli, Liebe. Ein Kalimba, das man auf dem Bauch spielen kann, und Frühchen-Kleider, denn euer Kind soll alles haben, was es auch unter normalen Umständen bekäme. So viele haben uns beide als werdende Eltern gesehen und nicht als Opfer der Umstände. Du trägst ein Kind im Bauch, es fühlt sich wohl bei dir, du willst Normalität geniessen, du nähst und bastelst und singst und weisst, der nächste Einbruch kommt bestimmt. Zwei weitere A4-Seiten, Kommunikationsplanung diesmal, wer organisiert und kommuniziert wann was wie wem, Ansprechpersonen Handynummern Mailadressen Ferienabwesenheiten. Neu an Bord ist die Kinderbestatterin, jemand vom Verein Himmelskind sowie die Fotografin Nicole vom Verein Herzensbilder, die Erinnerungen sammeln wird. Anna-Julia und Micha wollen sich ganz der Geburt widmen können. Woche 41. Die Heilige Odilia im Dom bekommt eine Kerze, angezündet von zwei halbwegs Ungläubigen in der Hoffnung auf was auch immer. Hand in Hand stehen Anna-Julia und Micha im Kirchenschiff, betrachten die kitschig grauenvoll schönen Deckenfresken, beginnen zu singen, zweistimmig, Blaui Nacht, der Hall ist überwältigend. Das war schön, nicht wahr, sagt Micha zum Kind. Das war für dich, und auch ein bisschen für uns. Es kickt, noch. Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass es im Mutterleib stirbt, sagt die Ärztin. Sollte es 13 Tage nach dem Geburtstermin nicht kommen, werden sie die Geburt einleiten. Am 14. Juli ist Deadline. Die Schrift in Anna-Julias Tagebuch wird fahriger. Zum Weinen geht sie an den Rhein, atmet Wellen und hangelt sich von Hoffnung zu Hoffung. Sie fragt sich, ob sie das Falsche hofft. Ob man sich aussuchen kann, was man hofft. Woche 42. Manchmal hören Anna-Julia und Micha dem Gejammer von Menschen zu, mit denen sie sofort tauschen würden. Oder von Menschen, die fragen, was es nicht zu fragen gibt, mit viel Meinung, wenig Ahnung und sehr wenig Feingefühl. Dass der Akupunkteur seine Klappe halten sollte, merkt er erst, als Anna-Julia in Tränen ausbricht. Liegt Anna-Julia im Bad, dann visualisiert sie eine Blüte, die sich öffnet. Sie stellt sich vor, wie ihr Körper weicher wird. Sie führt den warmen Duschstrahl dem Körper entlang abwärts. Abwärts Kind, abwärts. Das Kind bewegt sich, nur nicht abwärts. Und es dreht sich auch nicht. Micha steigt in die Wanne, ein Schatzkästchen-Moment mehr, aber helfen tut es nicht. Bäder, Massagen, ungezählte Abwärts-Einladungen, Mitbewohnerin Sonja führt im Wohnzimmer einen Wehen-Regentanz auf. Ein Business-Modell wird’s nicht werden, doch das Lachen tut gut. Mittwoch 14. Juli. Frühmorgens trägt Anna-Julia ihr Tagebuch nach, ganz ruhig, Micha ist erstaunt und erleichtert. Um 10.15 Uhr kommen ihr Papa Peti und Schwester Tabea mit ihrem Fahrradanhänger für die Taschen und Essen. Sie filmt ihre hochschwangere Schwester, wie sie mit Micha über die Brücke radelt. Auf dem Velo zur Geburt im Unispital. Noch scheint die Sonne. Die alte Steisshebamme Gespräch mit den Ärztinnen und Ärzten. Keine Eskalationen. Um 15.00 Uhr wird ein Prostaglandin-Tampon eingesetzt, der die Wehen auslösen wird. Das Paar bezieht ein Spitalzimmer. Micha schiebt die beiden Betten zusammen. Da liegen sie nun. Er liest ihr aus dem Petit Prince vor. Um 17.00 Uhr künden sich erste Wehen an. Es regnet. Die Wehen werden stärker. Anna-Julia ist verunsichert. Wie weit sind wir eigentlich, wo stehen wir? Sie hatte viel Ruhe und wenige Untersuchungen bestellt, und das kriegt sie, aber nun fehlt ihr die Orientierung. Womöglich fehlt sie auch den Ärztinnen und Ärzten, so ohne die gewohnten Parameter. Sind die jetzt auch unsicher? Haben sie Angst vor mir und meinem Kind oder was? Die Hebamme kommt, untersucht, alles gut. Ein warmes Bad, ein kurzes Filmchen, okay für dich? Micha filmt sonst kaum je. Okay für Anna-Julia. Er filmt sie, das Kind kickt im Wasser. Meinst du, es gefällt ihm, fragt Micha. Er staunt, mit welcher Sicherheit Anna-Julia ihre Atemübungen abruft. 23.12 Uhr. Übergabe an die Gebärsaal-Hebammen, zwölf Minuten nach dem Schichtwechsel, perfekt, bis zum Morgen dasselbe Team. Anna-Julia ist trotzdem übel. Sie hasst es zu erbrechen, aber jetzt wünscht sie sich, sie könnte. Micha streicht ihr Haare aus dem Gesicht, sie schüttelt fast unmerklich den Kopf, keine Berührungen mehr jetzt. Micha ist beeindruckt, er hat mega Freude, wirklich mega, weisst du, sie hat es so gut gemacht, drei Stunden sind wir in der Wanne gewesen. Wir, sagt er. 00.20 Uhr, Umzug in den Gebärsaal Nr. 4 nebenan. Anna-Julia schlottert. Wann werdet ihr den PDA-Katheter legen, fragt sie, die Ärzte haben ja darauf bestanden. Wir werden sehen, antwortet die Hebamme leichtfüssig. Micha gibt ihr sein Handy und bittet sie, ein paar Fotos zu machen. Später begleitet er Anna-Julia zur Toilette. Dreissig Jahre zuvor war Anna-Julias Mutter während der Geburt auf die Toilette gegangen und hatte gefürchtet, dass sie dort von einer Wehe erfasst und das Kind, Anna-Julia, in die Toilette fallen würde. Die Toilette ist auch vom Gebärsaal gegenüber zugänglich. Team Anna-Julia/Micha hört ein Kind schreien. Scheisse, denkt Micha. Es folgen die Glückskundgebungen einer jungen Mutter. Anna-Julia hört sie auch, reagiert aber nicht. Sie bleibt bei sich. 00.30 Uhr, zurück auf's Bett. Anna-Julia dreht sich. Frösteln, Micha reicht ihr eine Decke, sie strampelt sie weg, sie hat jetzt heiss, und was ist, wenn ich es nicht mehr schaffe? Hey, ich bin sicher du wirst es schaffen, ihr beide werdet die nötige Energie haben. Ihr beide, hat er gesagt, hat ihr Kind erwähnt, es tut ihr gut. 00.45 Uhr. Heftige Schmerzwellen. Micha läutet nach der Hebamme. Jemand betritt den Gebärsaal. Guten Abend, sagt eine souverän gereifte Stimme. Micha dreht sich um. Ich weiss, Sie erwarten nicht mich, aber nun bin ich da, ich bin die alte Steisshebamme, und ich bleibe bei Ihnen. Innert Sekunden übernimmt sie die Regie, gefühlt fünfhundert Jahre Erfahrung stehen im Saal, das ist jetzt sowas von beruhigend. Die Ärzte haben doch auf einen PDA-Katheder bestanden, sagt Anna-Julia. Ich weiss, lächelt die alte Steisshebamme, aber womöglich reicht uns dann die Zeit nicht mehr, nicht wahr. Sie weiss um Anna-Julias Wunsch, ohne PDA zu gebären. Auf dem Rücken liegend atmet Anna-Julia sich von Wehenpause zu Wehenpause. Die Fruchtblase platzt, ein erster befreiender Moment. Zwei Hebammen wachen jetzt, oben und unten, Micha daneben. Anna-Julia arbeitet. Ein kleiner Po taucht kurz auf und zieht sich wieder zurück, noch zwei Wellen und dann gehen wir in den Vierfüssler. Das Handy der alten Steisshebamme klingelt. Sie nimmt ab und lauscht. Zu spät, sagt sie und legt auf. So klemmen alte Steisshebammen junge Anästhesieärzte ab. Anna-Julia geht in den Vierfüssler, hält sich fest am Bett, stösst Urgeräusche ins Kissen und fühlt in den kurzen Pausen ihre eigene Faszination über das Geschehen. Sie ist ganz bei sich. So lange hat sie sich vorbereitet, weisst du, hat für das Atmen so ein klares Mindset aufgebaut und darauf fokussiert, ganz bei sich zu bleiben, und dann ruft sie alles ab, zum richtigen Zeitpunkt, du siehst fasziniert zu und erlebst, dass eine Geburt nicht einfach ein Kampf sein muss, den eine Frau zu ertragen hat, sondern dass sie den Prozess mitsteuern und in seiner Bahn halten kann, ich war so unglaublich stolz auf sie. Eine Ärztin kommt dazu, bleibt im Hintergrund. Anna-Julia fühlt, wie sich das Kind im Becken dreht, es lebt. Das Fudi kommt, sie spürt es, das ist mega, wenn so etwas Grosses aus dir heraus kommt, wahnsinnig. Die Beine sind nach oben gestreckt, die Füsse liegen wohl bei den Ohren des Kindes. Mit einem Plopp pflatschen die Beinchen heraus, fallen, baumeln herunter, keine Spannung. Das sieht tot aus, denkt Micha. Die Ärztin sieht ihn wortlos an. Blickkontakt, ein kurzes Nicken, es scheint ihm klar zu sein. Seine Aufwallung ist kurz, das Kind hat sich für diesen Weg entschieden. Wie wird Anna-Julia es aufnehmen? Ist es da? fragt sie. Die Beine sind draussen, sagt Micha. Kein Wort vom Tod, sie braucht ihre Kräfte, der Rumpf kommt, die Arme, der Kopf mitsamt der Plazenta, ein Kraftakt. Micha ist überwältigt. Um 01.34 Uhr kommt das Kind in den Händen der alten Steisshebamme an. Es ist tot. Michas Rausch hält trotzdem an, das Glücksgefühl bleibt ekstatisch. Anna-Julia dreht sich auf den Rücken. Lebt es noch?, fragt sie. Ich glaube nicht, sagt Micha vorsichtig und blickt zur Hebamme. Nein, sagt die Hebamme, es lebt nicht mehr. Anna-Julia zeigt kaum eine Reaktion, Micha ist erleichtert, keine Welt bricht zusammen. Klar, als Mutter könntest du noch offensichtlicher glücklich sein, wenn dein Kind dir entgegen schreit, aber es ist in diesem Moment so überwältigend, dass es für dich nebensächlich wird, du kannst dich nicht sattsehen und sattfühlen. Was ist es?, fragt sie. Ein Junge, sagt er. Ach was, sagt sie. Doch, ehrlich, er hat uns an der Nase herumgeführt. Jonathan. Sie singen für ihn. Blaui Nacht. Ich bin bi dir und du bi mir, bis dass dr Tag verwacht, das Singen ein Weinen, Glück, Erschöpfung, Stolz und Trauer, volle Kanne. Eineinhalb Stunden lang liegt das tote Kind an der Nabelschnur auf Anna-Julias Bauch, anfangs schmierig, später klebrig. Es riecht nicht fein. Micha denkt an Innereien, aber es ekelt ihn nicht. Er zieht sein T-Shirt aus, nimmt seinen Sohn, versucht herauszufinden, wie er sein schlaffes Körperchen hochhebt, ohne dass die Leblosigkeit allzu offensichtlich wird. Dann legt er ihn sich auf den Bauch. Bei jedem Atemzug von Micha hat Anna-Julia das Gefühl, Jonathan bewegt sich. Während der Geburt hatte sie geglaubt, das Kind hätte sich gedreht. Dabei hatte nur der Druck in den Geburtskanal eine Drehung des kleinen Körpers erzwungen. Die Hebammen waschen Anna-Julia, die Ärztin näht den angerissenen Damm, die unterzuckerten Eltern teilen sich ein Snickers. Als Micha Jonathan badet, weint Anna-Julia zum ersten Mal. Micha hält den Kopf ihres Sohnes über dem Wasser. Er hält inne. Ist es für dich okay, wenn ich ihn ganz untertauche? Anna-Julia nickt. Wasser läuft in Jonathans halb geöffneten Mund. Milch und Tränen 05.30 Uhr. Zurück im Zimmer. Guten Morgen, ich bin ihre Taghebamme, und ich bin tief beeindruckt von ihrer Geschichte. Sieht man uns an, dass wir verwaiste Eltern sind? Micha legt Jonathan ins Körbchen, stellt es auf den Fenstersims, öffnet das Fenster, guck mal, das da sind Bäume, und das, was bläst, das nennt man Wind. Jonathan wird nicht lange bleiben, es gilt, ihm die Welt zu zeigen. Ein Lufstoss und die Mutter erschrickt, das Fenster könnte zuschlagen und ihr Kind treffen. Micha ruft Tabea an und informiert sie über Jonathans Besuch. Das Sprechen fällt ihm schwer, statt Jonathan versteht sie Nathan. Tabea telefoniert der Kinderbestatterin. Wenn sie das Kind mit nach Hause nehmen wollen, sagt sie, wären acht Grad Körpertemperatur ideal, kühles Wetter und ein offenes Fenster reichen da nicht. Frühstück. Weinen. Duschen. Fotografin Nicole macht Herzensbilder. Micha nimmt Jonathan aus seinem Körbchen, er ist etwas steifer. Hatte es nicht geheissen, bei Kindern gebe es keine Totenstarre? Möglich, dass er wieder weicher wird, sagt Lara vom Palliativteam. Der Vater zieht das T-Shirt aus, er will seinen Sohn Haut auf Haut spüren. Er fühlt keine metallene Kälte, nur fehlende Körperwärme. Kein Unbehagen, sondern Dankbarkeit. Die Haut ist so fein und weich, das kannst du dir nicht vorstellen, das fühlt sich schön und menschlich an, und du siehst nicht ein totes Kind, du siehst dein Kind. Als Mutter verliebst du dich überwältigend, vermutlich kann man sich nicht vorstellen, dass das auch bei einem toten Kind funktionieren kann. Am Nachmittag bringen Papa Peti und Schwester Tabea eine Kühlmatte für Jonathan, gekauft im Qualipet. Wie gross ist denn der Hund, hat die Verkäuferin gefragt. Etwa so, hat Tabea geschätzt und mit den Händen einen halben Meter angedeutet. Gelächter im Unispital. In diesem Unispital, dessen Teams alles möglich und alles richtig gemacht haben. Anna-Julia tut das Lachen weh, der Bauch. Draussen geht ein Gewitter nieder, Micha freut sich. Jonathan darf alle Wetterlagen erleben. Freitagmorgen. Jonathans Fontanellen sind ausgeprägter. Anna-Julia befremdet es, dass es sie befremdet. Sie wollen Jonathan mit heim nehmen und so lange wie möglich bei sich behalten. Eine Woche. Also bis Freitag. Das hängt davon ab, wie diszipliniert ihr ihn kühlt, sagt die Bestatterin. Sie ist die erste, die kondoliert statt gratuliert. Irritierend. Gehört wohl zum Jobprofil. Gut, dass Jonathan erst während der Geburt gestorben ist, weisst du, Kinder, die im Bauch schon länger tot sind, sind fragiler, du kannst sie verletzen, die Haut kann sich ablösen. Klar, vorsichtig sein muss man auch bei Jonathan. Wie transportiert man eigentlich ein totes Frischgeborenes nach Hause? Sabrina und Brigitte betreten das Zimmer. Willkommen unter den Müttern, sagt Sabrina, die Begrüssung brennt sich in Anna-Julias Herz. Sie haben uns einfach gratuliert, haben uns alle Anerkennung gegeben und unserem Stolz seinen Raum gelassen. Sabrina berichtet von einer Neptun-Konstellation oder sowas, sie steht für allumfassende Liebe, nein, stimmt nicht, sie hat immerwährende Liebe gesagt, oder war’s bedingungslose Liebe, egal, man heult sich frei. Mit dem Lift geht es hinunter in die Halle. Die Hebamme schiebt Anna-Julia im Rollstuhl, der Vater trägt seinen toten Sohn auf dem Arm durch die Empfangshalle des Unispitals. Draussen hält ein Bubble-Komitee Umarmungen bereit, Tränen und einen geliehenen Kleinwagen. Brigitte klemmt sich hinters Steuer. Sie kennt die Stadt nicht, und Copilot Peti kennt sie nur vom Fahrrad und der Strassenbahn aus. Machen wir halt eine Stadtführung, versucht der Arme die Stimmung aufzulockern, mit mässigem Erfolg, das Auto rüttelt, die Welt lärmt, der Bauch schmerzt. Willkommen daheim zum Linseneintopf. Liz und Anet werden Anna-Julia mit täglicher traditioneller Hebammenkunst aufpäppeln und ihre Brüste mit den steinharten Milchdrüsen in Quarkwickel packen. Wenn der Vater das tote Kind der Mutter in die Arme legt, fliessen Milch und Tränen. Der Papa stellt den Bub im Körbchen ans Fenster. Schau Jonathan, das ist eine Birke, Mamas Lieblingsbaum, die Blätter tanzen. Die Mama stört sich nicht mehr an Jonathans eingefallener Fontanelle. Immer wieder muss sie prüfen, ob seine Wangen noch weich und fein sind. Der Countdown läuft. Jonathan lernt Michas Eltern kennen. Es berührt Micha, wie Vati mitweint. Später zückt er sein Handy, betrachtet die Fotos aus dem Gebärsaal, den kurzen Clip mit Anna-Julia in der Wanne, den einzigen Clip der Geburt, spontan aufgenommen. Jetzt wird Micha klar, was er gefilmt hat. Jonathans letztes Lebenszeichen. Samstagmorgen. Die Bestatterin ersetzt die Hundekühlmatte durch einen Cuddlecot, eine Kühlmatte für Sternenkinder mitsamt Schlauch und Generator, passend für den Stubenwagen. Ein Zeitschinder. Jedesmal, wenn du das tote Kind heraus nimmst, verkürzst du sein Leben. Der Countdown läuft Die Eltern liegen auf dem Bett, den Sohn auf Vaters Beinen. Mit der rechten Hand hält Micha seinen kleinen Kopf. Die Mutter fragt ihren Sohn etwas. Der Vater lässt ihn nicken. Lachen. Gell Jonathan, fragt Anna-Julia, deine Eltern finden sich jetzt grad sehr lustig. Der tote Sohn nickt wieder. Will uns irgendwer pietätlos nennen, fragt Micha, irgendwer mit einer Million Gelegenheiten für Schatzkästchen-Momente? Uns rinnt die Zeit durch die Finger, Jonathans Lippen werden bereits dunkler und trockener. Die Mutter cremt sie ein mit ihrem Kolostrum, der Vormilch. Jonathan bleibt im Schlafzimmer, die von der Geburt erschöpfte Anna-Julia lebt mit ihm. Micha ist das Bindeglied zu WG und Bubble im Erdgeschoss. Jemand ist immer da, räumt auf, rüstet Salat, kocht spontan, verteilt Umarmungen, zur Not auch Unbekannten, man ist froh, hat man etwas zu tun. Zum Hotelleriebetrieb gehören auch Brigitte und Roger aus dem Wallis, Jonathans Paten, ihre Couch ist in bester Erinnerung. Michas Mueti bringt Kuchen, Vati bringt Neil Diamond. Ein halbes Dutzend mal hört Micha sich die Möwe Jonathan an und heult sich die Augen aus dem Kopf. Sonntagmorgen. Brigitte hat frisches Brot gebacken. Ein Tag für die Dreisamkeit im Schlafzimmer und die Bubble im Wohnzimmer. Laptop, tippen. Ihr Lieben. Jonathan ist angekommen. Er hat sich während der Geburt leise verabschiedet. Wir fühlen uns getragen, auch wenn die Trauer gross und die Realität schwierig zu akzeptieren ist. Diese Gefühle sind genauso da wie Freude, Stolz und Dankbarkeit. Sie sind wahr und okay. Wir brauchen Zeit und Raum. Ein knappes Dutzend Menschen erhalten eine zusätzliche Nachricht. Wir freuen uns über Anmeldungen zu zehnminütigen Kennenlernbesuchen am Montag und Dienstag. Ihr dürft uns unbeschwert ansprechen. Später, wenn wir mehr Zeit haben, werden wir gerne erzählen. Zehn Minuten Besuch, viel zu wenig, natürlich, du kannst die Leute nicht stundenlang auf dem Bettrand haben, es kostet alles soviel Energie, aber zehn Minuten scheinen uns genug, um eine persönliche Erinnerung an Jonathan mit nach Hause zu nehmen. Micha füllt die kleine Wanne, giesst das gesammelte Kolostrum dazu, ein milchiges Cleopatra-Bad für Jonathan. Er ist so schön weich und schwerelos im Wasser. Die Eltern sprechen mit gedämpfter Stimme, als ob sie Jonathan wecken könnten. Sie trocknen ihn vorsichtig ab, seine Haut lässt es noch zu. Micha ist dankbar, dass er Jonathan schön findet. Im Voraus kannst du dir das nicht vorstellen, aber ich sah beides, ein totes Kind und meinen schönen Sohn. Erste Reaktionen auf Michas Kurznachricht kommen herein. Liebevolle, feinfühlige. Einige reagieren nicht. Andere halten sich kurz, so wie Onkel Willi. Ach du Scheisse, hat er sich bei der Lektüre der Nachricht gedacht, die Armen, zehnminütige Kennenlernbesuche, Zeit und Ruhe brauchen sie und jetzt surren ihre Handys bestimmt ununterbrochen und sie fühlen sich verpflichtet Mitmenschen ihres riesigen Freundeskreises im Zehnminutentakt an ihrem toten Kind vorbei zu schleusen und mich als überforderten Besucher noch aufzufangen diese verwandtschaftlichen Frischgeborenen-Präsentationen sind ohnehin ein Graus die übliche Ach-wie-süss-Flöte konnte Willi noch nie vorspielen und schon gar nicht wenn das Kind auch noch tot ist und womöglich missgebildet er weiss ja nicht mal soll er gratulieren oder kondolieren die zwei werden übermüdet sein und weinen und er wird einfach nur ein unbeholfener überforderter Störfaktor und Energiefresser sein wie zur Hölle soll man in zehn Minuten der Schwere einer solchen Situation gerecht werden? Willi öffnet seine Agenda. Rebekka und er sind in den Ferien. Gott sei Dank. Lieber später zu einem Znacht einladen, wenn Ruhe eingekehrt ist. Er setzt zu einer Antwort an, löscht sie wieder, zu übergriffig, er kennt Anna-Julia gar nicht wirklich, nichts riskieren, aber auch nicht profan sein oder kitschig, keine Phrasen, verdammt nochmal, dann eben nüchtern. Lieber Micha. Vielen Dank. Ihr macht das wahnsinnig gut. Ich wünschte, wir hätten damals in eurem Alter eure Reife gehabt. Wir sind in den Ferien, von uns wird niemand kommen. Aber ihr seid sehr, sehr präsent bei uns. Liebe Grüsse an alle, Willi. Jonathan verfärbt sich Montagmorgen. Anna-Julia erwacht früh und traurig. Micha holt Jonathan ins Bett. Er hat einen Grünton. Vielleicht hätten wir ihn konsequenter kühlen, am Vorabend nicht baden sollen, das geht jetzt doch ungemütlich schnell mit den Veränderungen. Micha schluckt leer und schweigt. Jonathan ist immer noch herzig, schreibt Anna-Julia ins Tagebuch. Hebamme Anet legt ihr Jonathan auf die angespannten Brüste. Das Kind kühlt. Brigitte und Roger bringen Blumen vom Feld. Alina kommt, der einzige Besuch am Montag. Anna-Julia stellt ihr Jonathan vor. Weinen, staunen, streicheln. Team Micha/Anna-Julia plant Jonathans letzten Weg zum Friedhof, kleine Rituale, die Übergabe ans Krematorium. Focaccia mit Gemüse auf dem Balkon mit der Bubble, bis Anna-Julia das Gespräch zu banal wird, sie muss hinauf ins Zimmer, für Jonathan singen und ihm vorlesen, und wenn ich mich verändere heisst es im Büchlein, der Satz passt gut, Jonathan wird immer grüner. Als Tabea eintritt, liegt Anna-Julia neben ihrem toten Sohn auf dem Bett. Tabea erschrickt über seine Farbe. Sie legt sich neben sie und weint mit. Anna-Julia hat Angst. Dass sie den Zeitpunkt verpassen, an dem es kippt. An dem sie nicht mehr ihren Sohn sieht, sondern etwas anderes, etwas anderes, sagt sie, genau wie Micha, nie Leichnam, nie Verwesung, immer nur etwas anderes. Er fürchtet den Geruch, sie die Verfärbung. Beide sprechen es nicht aus. Auch die Bubble schweigt. Für Dienstag sind fünf Kennenlern-Besuche angesagt. Nach dem Abendessen betreten Lara und Zoe vom Palliativteam das Haus. Sie bleiben unten im Wohnzimmer mit Micha und der Bubble, navigieren vorsichtig in Richtung Wahrheit. Wir hatten an Freitag gedacht, sagt Micha. Donnerstag wäre besser, sagt die Runde. Nun gibt Micha seiner Angst Raum: Mein Bauchgefühl sagt inzwischen Mittwoch. Mittwoch ist gut, bestätigt die Runde erleichtert. Anna-Julia liegt im Zimmer auf dem Bett, erschöpft, unruhig, wieso dauert das so lange, wieso kommt das Palliativteam nicht herauf, Micha sollte sie doch bloss über ihre Pläne für Jonathans letzte Reise informieren? Die drei betreten dann doch das Schlafzimmer. Anna-Julia, schau, wir haben unten einiges besprochen. Vermutlich sollten wir Jonathan schon am Mittwoch abgeben. Und vielleicht nicht ganz so wie geplant. Anna-Julia weint, sie hat es geahnt. Nur noch zwei Nächte. Und Jonathan werden wir vielleicht nicht mehr aus dem Körbchen nehmen können. Micha weint auch. Das Palliativteam steht dabei und leidet mit. Kurz bevor Lara und Zoe das Haus verlassen, kommt Micha noch einmal herunter, zum Zerreissen angespannt. Bis zu den Besuchen Morgen Dienstag ist Jonathan noch einmal eine Nacht älter. Was, wenn er sich noch schneller verändert? Ist Mittwoch Nachmittag früh genug? Jonathan bekommt Lavendeltüchlein ins Körbchen. Ach, wir haben es doch richtig gemacht, denkt Anna-Julia, trotzig versöhnlich. Wozu ein Kind zwei Wochen im Kühlschrank haben und nie bei sich. Wir machten, was wir wollten, wir haben ihn gebadet, ihn gespürt. Und nun müssen wir uns eben schneller als erhofft vom Körperlichen lösen, das ist der Preis. Sie liegen im Bett, plaudern mit ihrem toten Sohn im Stubenwagen, singen, gute Nacht, ich muss eine Zukunft einüben, denkt Anna-Julia, in welcher ich zum Stubenwagen hinüber plaudere, ohne dass Jonathan darin liegt. Dienstagmorgen. Erst mit Hebamme Anet wagen Anna-Julia und Micha den Blick unter Jonathans Decke. Es ist weniger schlimm als befürchtet. Sie ölen Jonathan ein, Lavendel, Micha entspannt sich. Anet zieht Anna-Julia die Fäden. Milch und Tränen fliessen, wenn sie nur schon an Jonathan denkt. Lara vom Palliativteam meldet Jonathan für Mittwoch im Krematorium an. Ja morgen. Nein, kein Bestatterauto. Jaja, ich kenne die Gepflogenheiten sehr wohl, aber diese Eltern werden ihr Kind selber bringen. Papa Peti ruft Till an, Anna-Julias Bruder: hast du einen Kollegen mit einem Auto, der den Kindersarg meines Enkels auf den Friedhof fahren könnte? Tabea hört zu und bricht in Tränen aus. Die Besuche Zehn Minuten mit Willis Schwester Ros und ihren Kindern. Es ist mega schön, seid ihr da. Wenn ihr möchtet, stellen wir euch Jonathan gerne vor. Vielleicht möchtet ihr seine Händchen oder Füsschen sehen. Oder sogar den ganzen Jonathan. Aber nicht erschrecken, sein Kopf ist schon ein bisschen verfärbt. Tut einfach das, was sich für euch richtig anfühlt, wir freuen uns eh, seid ihr da. Ros wird mulmig. Das klingt nach Einstimmung auf einen Anblick, der keine Freude macht. Gut hat sie die Kinder vorbereitet, ihr dürft hinsehen oder wegsehen, wie es euch wohl ist. Sie möchten Füsse und Hände sehen, schliesslich doch das ganze Körperchen, Micha zieht mit ruhiger Hand die Decke weg. Ein Köpfchen, der kleine Mund leicht geöffnet, eine Stupsnase, das linke Ohr ein Unikat, Ros verliebt sich augenblicklich. Die Kinder sind respektvoll fasziniert von den kleinen Äderchen, grünlich, bläulich, sie möchten Jonathan berühren. Anna-Julia und Micha sind glücklich. Philipp möchte Füsse und Hände sehen, dann den ganzen Jonathan, er streichelt ihn. Anna-Julia macht vom Bett aus Fotos. Micha stellt Jonathan immer so liebevoll vor, wird sie ins Tagebuch schreiben. Dominique bringt eine Decke mit Zitronensujet, genäht mit Flurina. Sie möchte Jonathan lieber nicht betrachten. Doch dann, die Füsschen. Und schliesslich doch seinen kleinen Rumpf. Faszinierender als jede Anatomiestunde, wird die angehende Physiotherapeutin später sagen. Vera fragt nach der Geburt. Anna-Julia geniesst den Triumph einer problemlosen Beckenendlagengeburt ohne Anästhesie. Martina blickt ungeduldig wie ein hungriges Hündchen, unbedingt will sie Jonathan ansehen! Es tut so gut, weisst du, dass die Menschen an Jonathan einfach Freude haben, trotz allem. Der letzte Abend mit Jonathan bricht an. Micha und Anna-Julia sind erschöpft, erfüllt, traurig. Den Verletzungen über Abwesenheiten und ihre Gründe werden sie später Raum geben. Sie legen sich auf den Balkon, lassen sich vom sommerlichen Nachglühen der Stadt einhüllen, singen hinauf und durchs offene Fenster ins Schlafzimmer zum gut gekühlten Jonathan, erzählen ihm vom nächsten Tag. Dass es sein letzter sein wird. Dass er bleiben soll, wenn er gehen muss, damit sie nicht so einsam sind. Verwaiste Eltern Mittwochmorgen, halb fünf Uhr. Anna-Julia hofft, dass ihr die letzten sieben Stunden mit Jonathan lange vorkommen. Das Lavendelöl gibt Micha den Mut, allein unter die Decke zu schauen. Lavendel, gut, Micha ist beruhigt. In den letzten Stunden wird sich der Körper wohl nicht mehr gross verändern. Und eigentlich wäre Anna-Julia körperlich jetzt soweit, dass sie Jonathan selber aus dem Körbchen heben könnte. Micha zeigt Anna-Julia, wie man ein totes Kind aufnimmt. Weisst du, sie war es, die ihn auf die Welt gebracht hat, sie ist ihm naturgemäss näher, sie ist die Mutter und es sind ihre Brüste, die man abstillt. Aber in diesem Augenblick bin ich es, der ihr zeigen kann, wie man Jonathan hochhebt, ich als Vater, mega schön, weisst du, so mega schön. Tränen. Papa Peti bringt Frühstück. Nicole fotografiert. Zimmer, Stubenwagen, Kerzlein, Engelchen, Jonathan, Anna-Julia und Micha. Eine von Anna-Julias Tränen fällt auf Jonathans linkes Auge, jetzt weint er mit. Micha stellt sich mit seinem toten Sohn im Arm vor den Spiegel, er will sich als Papa sehen. Sein grünes Hemd passt zu Jonathans Teint. Anna-Julia gesellt sich dazu, sie betrachten sich als Familie. 14.00 Uhr. Die Kühlmaschine ist abgestellt. Zum ersten Mal seit vier Tagen ist es völlig still im Zimmer. Die kleine Familie tritt vors Haus, Micha mit Jonathan im Arm. Es wartet ein geliehenes Auto, ein Kindersarg mit Blumen und eine etwas grössere Bubble, erlöst von einem Leichnam, dankbar für Jonathan, besorgt um seine verwaisten Eltern. Micha legt Jonathan in den Kindersarg und schliesst den Deckel. Wir werden ihn dann schon noch einmal aufmachen, beruhigt Anna-Julia ihr Kind. Ampeln, Autos, Leben, denkt Anna-Julia, als ob nie etwas geschehen wäre. Micha ist dankbar für die Ruhe im Auto. Sie sitzen hinten, die Hand auf dem Kindersarg in der Mitte. Bei einer Baustelle blitzt es. Das war jetzt aber kein Radar, nein, oder? Micha blickt diskret zu Anna-Julia. Sie hat nichts gemerkt. Sabrina wird nie verraten, was die fünfzig Stundenkilometer in der dreissiger Zone sie gekostet haben. Dieses eindrückliche Portal zum Friedhof. Diese symmetrisch angelegten Büsche, dazwischen die Wildblumenwiesen in voller Pracht, sie blühen für Jonathan, denkt Anna-Julia, so wie die Welt sich nur für Jonathan gedreht hat in diesen Tagen, selbst die Lichtung hat nur auf ihn gewartet, die Buchen spenden extra schattigen Schatten und Sachlichkeit ist fehl am Platz. Micha zieht die Schuhe aus. Beim Abschied von seinem Kind will er sich selber sein und sonst genau nichts. Sie setzen sich auf ein Mäuerchen. Jonathan darf ein letztes Mal zu Micha. Singen unter Tränen. Zurück in den Sarg, endgültig. Das Nuschi mit dem goldenen Löwenzahn kommt zusammengerollt unter den Nacken, damit er schön liegt und sein Mund nicht so offen ist. Die Schere ist bereit, zwei Ecken vom Nuschi abzuschneiden. Reiseproviant: Das Fläschchen mit dem letzten Kolostrum, ein hübsches Schläufchen, eine Sonnenblume mit drei Kirschen darin, damit Jonathan Kirschsteine spucken kann auf dem Weg nach wohin auch immer, man malt sich irgend etwas aus, damit’s weniger weh tut, wenn alles verbrannt wird. Es ist so schön wie möglich gewesen dort unter den Bäumen, weisst du. Sich endgültig von seinem Kind verabschieden ist so unnatürlich, das verkraftest du gar nicht. Also gibst du nur den Körper weg, das Kind bleibt überall. Bei den ganzen Vorstellungen, die du dir machst, geht es ohnehin nicht um das Kind, sondern um dich. Es sind kümmerliche Versuche, den Abschied erträglicher zu machen. Dem Kind geht es doch gut, das ist parat. Sie schliessen den kleinen Kindersarg. Lara und Zoe vom Palliativteam erscheinen, ein kurzer Blickkontakt, ja wir sind bereit, eine Umarmung, liebe- und würdevoll tragen sie Jonathan weg. Micha breitet Dominiques Zitronendecke aus, legt zwei Kissen dazu. Die leergeweinten Eltern legen sich hin, ergeben sich, dankbar. Ihr müsst Erinnerungen schaffen, hat das Palliativteam gesagt, für den Rest eures Lebens, und nichts anderes haben sie gemacht. Ein Rollstuhl erwartet die erschöpfte Anna-Julia, geliehen, hergefahren im Taxi. Das Polster ist heiss von der Sonne, bei den Rädern ist mittlerweile die Luft draussen. Die pathetische Würde auf dem Weg zum Auto wird respektlos gebrochen vom Quitschen der Gummipneus. Wohnzimmer am frühen Abend. Blumen und Erleichterung. Du musst noch deinen Vati umarmen, sagt Tabea zu Micha, er hat so viel getan. Till hat Glace gebracht, Mueti Reissalat. Beim Nachtessen werden Anna-Julia und Micha von der Bubble und ihren Geschichten geschluckt. Loic und Sonja haben eine Matratze entsorgt, die bei einer Kellerüberschwemmung vor drei Tage ihr Gewicht verdreifacht hat. Wir haben Zeit, schreibt Anna-Julia ins Tagebuch, alle Zeit der Welt zum Weinen. Das verwaiste Elternpaar, gut betreut von der Bubble, hält sich an den Devotionalien fest. Anna-Julia sammelt die Texte von Messages und listet sie alphabetisch auf. Mein ganzer Körper schreit nach einem Kind, notiert Anna-Julia, die Stadt ist voller Bäuche und Babys. Ich wünsche dir eine Welt, die dir gefällt lieber Jonathan, hatte Tabea geschrieben und einen Body überreicht, er ist wohl etwas zu gross, aber du darfst ihn vererben an ein Geschwisterchen. Zwei Wochen später holen Anna-Julia und Micha beim Krematorium die Urne ihres Sohnes ab. Bezahlen Sie bar oder mit Karte? What the fuck, denkt Micha und antwortet freundlich: Gerne mit der Karte. Willi ist zu fröhlich Die Urne wartet im Schlafzimmer, bis Anna-Julia und Micha entschieden haben, was sie damit machen wollen. Jonathan bleibt präsent als Erinnerung oder als weisser Elefant im Raum mit denen, die tun, als wäre nie etwas gewesen. Die Leute sind überfordert, denkt Anna-Julia sonntags, und wir sind dafür verantwortlich. Die Leute sind feige, denkt Micha montags, oder zu bequem, um auch nur zehn anstrengende Minuten lang unsere Tränen zu ertragen. Manchmal fühlt es sich an, als sei Jonathan für andere Menschen tot. Wie geht’s, fragt dienstags der Vater einer Freundin auf der Strasse. Nicht wahnsinnig gut, antwortet Anna-Julia. Immer noch nicht? erwidert das Gegenüber. Ja immer noch nicht, schweigt Anna-Julia wütend, glaubst du, Trauer kann man einfach wegklicken? Verschwinde mit deinem banalen Scheiss, brüllt es in Micha mittwochs, es interessiert mich nicht, was damals mit deinem Kind passiert ist, dein Kind geht heute aufs Gymnasium und ist glücklich und gesund! Und dann dieses unsägliche Wie-gehts-dir zwischen Tür und Angel, donnerstags. Doch freitags, freitags fragt eine Freundin, sagt mal, was ist Jonathan eigentlich so für einer gewesen, erzählt mal. Eine Eröffnung wie ein warmer Sommerregen nach einer langen Dürre. Vier Monate später. Samstags. Nachtessen bei Willi und Jeanne. Begrüssung im Türrahmen. Michas Sensoren schlagen Alarm: Willi ist zu fröhlich. Er hat auf einen Türöffner gewartet, wird er später erklären, er greift doch nicht ungefragt in eine Wunde, vielleicht sind sie dankbar für Normalität, erst neulich hat er gelesen, dass Menschen nach Schicksalsschlägen irgendwann keine Lust mehr hätten, alles noch mal zu erzählen. Eigentlich wäre auch Jonathan hier, sagt Anna-Julia, kaum dass sie am Esstisch Platz genommen haben. Willi reagiert nicht. Minuten später die zweite Erwähnung, Anna-Julia hat Tränen in den Augen. Ist das jetzt ein Türöffner, denkt Willi, die Wunde ist aber noch arg blutig, er schweigt, will nicht verletzen, seiner Generation hat man noch beigebracht, wie entsetzlich viel man falsch machen kann. Das Thema war ja dann doch schnell auf dem Tisch, wird er Wochen später sagen, und Anna-Julia wird nach Luft schnappen, schnell Willi, schnell?, eine Ewigkeit hat es gedauert! Wieso brauchst du überhaupt einen Türöffner? Ist doch klar, dass frisch verwaiste Eltern über ihr Sternenkind reden wollen, also stell dich doch deiner Überforderung, wir wünschen uns nichts mehr als dass Menschen sich für Jonathan interessieren! Willi schluckt leer. Säuglinge findet er nicht interessant. Seine Eigenen überliess er jeweils nach der Geburt der Obhut der Hebamme, er selber blieb bei Rebekka, Vaterstolz ist ein blödes Klischee, Stolz auf werdende Persönlichkeiten okay, aber nicht auf druckfrische Neuankömmlinge, Vater werden ist keine Leistung. Und woher soll er wissen, dass Eltern ihre toten Kinder am Leben erhalten müssen, dass sie Bekannten und Verwandten Begegnungen ermöglichen wollen, damit sie in den nächsten Jahrzehnten beim Erinnern nicht so allein sind? Mueti, sagt Micha zu Willi, als sie sich nach einem für alle intensiven Besuch verabschieden, Mueti hat einmal erwähnt, dass Rebekka und du immer wieder nach uns gefragt habt. Das hat uns gut getan. Willi nickt und ist dankbar, dass Michas Mueti als leistungsfähigste Harmonieschleuder der Verwandtschaft wieder mal alles gegeben hat. Leute, die kein Wort sagen Liebe alle. Wir kommen morgen auch zur Sippenweihnacht ins Appenzeller Sippenferienhaus. Dies wäre Jonathans erste Weihnacht, und wir hätten uns so gefreut, ihn euch allen vorstellen zu dürfen. Umso mehr fehlt er nun dieser Tage. Ich freue mich, euch zu sehen, und bitte um Verständnis, wenn ich mich nicht gross an Gesprächen beteiligen mag und bei euch nicht gleich interessiert wie sonst nachfragen mag. Wir freuen uns sehr, wenn wir von Jonathan erzählen dürfen. Es gibt auch nichts Falsches, das man fragen kann. Und es ist auch ok, wenn man nichts wissen will. Und dann gibt es tatsächlich Leute, die kein Wort sagen, kein Wort!, wird Anna-Julia weinen, als die Sippenweihnacht überstanden ist. Sie wollten nichts wissen von unserem Sohn, und nun muss ich wieder meine Verletztheit aushalten und dann kommen so kindische Gedanken hoch: Wenn ich ein nächstes Kind habe, dann dürft ihr es auch nicht anschauen, für Jonathan habt ihr euch auch nicht interessiert, aber hätte er gelebt, ihr alle hättet euch über den Kinderwagen gebeugt! Nein, das hätten nicht alle, wird Willi schweigen, und manche vielleicht nur anstandshalber, weil so manche modernen Eltern heutzutage für ihr Projektkind bedingungslose abgöttische Bewunderung einfordern, und weil diesem Anspruch nachzukommen hat, wer nicht als herzloses Ekelpaket gelten will, und von wegen es ist auch ok, wenn man nichts wissen will – so ok ist es offenbar dann doch nicht? Doch, sagt Micha, du brauchst ja nicht zu fragen. Ein einfaches Signal der Anerkennung von Jonathan reicht doch: ich weiss, was geschehen ist, und ich weiss nicht, was ich sagen soll. Es gehört angesprochen, sonst steht der weisse Elefant ewig im Raum, es bleibt ein mühsames Warten, auch wenn’s nur Hemmungen sind, verletzt ist man trotzdem, Verletzungen kann man nicht abstellen. Hemmungen kann man auch nicht einfach abstellen, knurrt Willi lautlos. Stephanstag, Abend. Die halbe Sippe sitzt am Esstisch, plaudert und lacht und verliert kein Wort zu Jonathan. Er scheint niemandem zu fehlen. Micha verlässt die Runde. Später legt Mueti ein gerahmtes Foto von Jonathan auf den Tisch. Nun beugen sich einige darüber. Mueti macht einen Schnappschuss, Micha wird sich bestimmt freuen, dass sie sich für Jonathan interessieren, doch Micha wird wütend. Wieso ohne uns? Wieso fragt ihr uns nicht? Ros hängt Jonathans Foto im Sippenferienhaus prominent an die Wand beim Esstisch. Zu aufdringlich, findet Willi, und gerunzelt ist die Stirn von Role, der schon immer alles mit sich selbst ausgemacht hat, selbst den Tod seiner Frau. Missmutig verschiebt Ros das Foto aufs Buffet in der Stube, dort bleibt’s, basta, Jonathan gehört dazu, der erste Vertreter einer neuen Generation. Aber der Kaiser ist doch nackt, denkt Willi, das Kind ist tot. Und doch hat die Frage ihn nicht mehr losgelassen: Wie tot ist Jonathan? Wie tot für wen? Und was bedeutet das für den Umgang mit seinen Eltern? Wochen später sind Micha und Anna-Julia bei Willi zu Gast. Trinkt ihr ein Glas Wein mit mir? Nein, sagt Anna-Julia. Ok, sagt Willi. Ich bin im zweiten Monat schwanger, sagt Anna-Julia. Willi schiessen die Tränen in die Augen. Anna-Julia erhebt sich, er springt auf, Micha kommt dazu, die drei umarmen sich und heulen. Willi schneuzt sich. Hat Jonathan sich gefreut, als er von seinem Geschwisterchen erfahren hat? Anna-Julia lächelt. Ja, sehr, wir haben ihm gesagt, such dir eins aus, das länger bei uns bleiben mag. 15. Juli. Ein Jahr seit Jonathans Besuch. Micha und Anna-Julia mit ihrem dicken Bauch pilgern durch den Friedhof, im Schlepptau eine kleine Gästeschar. Beim Apéro am Abend stehen kleine Konfigläser mit Jonathans Asche bereit. Wer möchte, darf eins mitnehmen und an einem bedeutsamen Ort verstreuen. Willi möchte nicht, das ist für Anna-Julia und Micha voll okay, sicher. Die Jööö-Flöte wird Willi auch bei unserem zweiten Kind nicht spielen, sagt Micha beim Zubettgehen. Die Freude teilen wird er trotzdem, sagt Anna-Julia. Micha küsst Anna-Julias Bauch. Gute Nacht Kind, und gute Nacht Jonathan. Wochen später streut Willis Schwester Ros ihr Gläschen mit Jonathans Asche unter den jungen Mammutbaum beim Appenzeller Sippenferienhaus. Willi sieht zu. Er überlegt eine Weile. Dann geht er ins Haus. Am Abend erblickt Ros Jonathans gerahmtes Foto an der Wand beim Esstisch. Dort, wo die Sippe sich trifft, zu der er gehört. |